Raum

Auch der Raum, in denen sich die Kosakengruppen formierten und wo sie wirkten, kann als durchaus komplex angesehen werden. Kosakengesellschaften entwickelten sich ‐ sowohl im russischen als auch im polnisch-litauischen Herrschaftsbereich ‐ im Grenzland ‐ einem amorphen Bereich, in welchem herrschaftlicher Zugriff langsam abnahm und teilweise nur noch von städtischen Zentren mit mehr oder (meist) weniger Reichweite ausgeübt wurde. Vegetatorisch nimmt die Bewaldung ab und fließt zunächst in einen nicht unfruchtbaren Bereich dann in eine Steppe aus.

Das, was dieses Grenzland zu einem unbeherrschbaren Gebiet machte, sind die politischen Verhältnisse. Südlich der Steppen siedelten turko-tatarische Gesellschaften, die sich das Land nicht über Ackerbau zu eigen machten, sondern weitgehend Viehzucht betrieben. Das Grenzland ist seit dem Tatarensturm im 14. Jh. eine für Siedlung unwirtliche Gegend. Wie schon im 14. Jh. waren die Steppenbereiche am besten und schnellsten mit Pferden zu überwinden und umgekehrt, um so schlechter zu verteidigen. Tatarische Gruppen nutzen diese Infrastruktur und verübten immer wieder Überfälle auf die Grenzstädte: Sie kamen, raubten und plünderten, aber sie ließen sich nicht nieder und gründeten eigene Siedlungen.

In diesem Grenzland stießen also (stationäre) Ackerbau- und (mobile, wenig srukturierte) Viehzuchtgesellschaften aufeinander; ein Kampf, in welchem die tatarischen Reiter so lange die Oberhand behielten, wie es im Hinterland der angrenzenden Reiche genügend Raum zum Rückzug gegeben hat.

Dieser Raum im Hinterland wurde jedoch sowohl in Rußland als auch in Polen-Litauen seit dem 16. Jh. immer enger. Bevölkerungswachstum, aber auch der steigende Druck der Leibeigenschaft führte dazu, dass sich vermehrt Menschen aus dem Hinterland aufmachten und in die Grenzgebiete vordrangen. Sie begaben sich zwar in Gebiete, deren Lebensumstände sie existenziell bedrohten, andererseits aber waren sie ‐ je weiter sie sich vorwagte ‐ frei von Vormundschaft, Knechtschaft und Drangsalierungen durch Adlige.

Auch das Grenzland ist weder politisch noch soziologisch noch ökonomisch als ein homogener Raum zu sehen: In der Nähe von Herrschaftszentren ist der Zugriff der Adligen größer, weiter entfernt geringer, dafür aber nehmen wiederum die Gefahren, denen die lokalen Gruppen und Gesellschaften ausgesetzt waren, zu.

Auf zwei Erscheinungen im Grenzland ist in Bezug auf das Kosakentum besonders hinzuweisen:

  • das Steppenbeutertum
  • das beginnende Siedlungswesen.


Steppenbeuter

Das Steppenbeutertum ist eine ganz wesentliche Grundlage für die kosakischen Gruppierungen. Es handelte sich hier um Gruppen von Menschen, die sich jährlich im weiteren Hinterland im Frühjahr zusammen taten, um gemeinsam ins Grenzland zu ziehen und zu jagen. Man bildete also Gruppen als Schutz- und Wirtschafsgemeinschaften auf Zeit und wählte sich einen Anführer (den sie bezeichnenderweise als otaman, einer Führerbezeichnung, die eindeutig aus dem Tatarischen entlehnt war und nicht mehr hetman/het'man verwechselt werden darf). Diese Gruppen begaben sich auf Boote entlang der zahlreichen Flüsse ins Grenzland und gingen ihrem Beutertum nach, ‐ sie jagten und fischten, bereiteten ihre Beute auf und fuhren am Ende der Saison wieder ins Hinterland, um den Fang zu verkaufen.

In den Steppenbeutern stoßen wir auf die Urzelle kosakischer Organisation; klein genug, um überschaubare Machtstrukturen zu entwickeln, temporär und lose genug, um am Ende des Jahres ohne weitere Verpflichtungen seiner Wege zu gehen, geschlossen genug, um einander Schutz zu geben.

Siedlungswesen

Wer sich mehr mit dem Siedlungswesen an der Grenze zur Steppe befassen möchte, möge die hervorrangende Monographie von Peter Rostandkowski (Die Entwicklung osteuropäischer Siedlungen und speziell der Chutor-Siedlungen, Berlin 1982) lesen. Er beschreibt sehr eindringlich, wie sowohl aus Steppenbeutern als auch aus den vordringenden Bauerngesellschaften die Siedlungen im Grenzland zu wachsen begannen.

Ein Kern dieser Entwicklung ist nämlich, dass die Steppenbeuter sich in der Steppe offenbar zunehmend fester einrichteten. Entlang der Flüsse, die sie befuhren, entstanden im Verlaufe der zweiten Hälfte des 16. Jh.s und v.a. in der ersten Hälfte des 17. Jh.s zunächst sogenannte Bienengärten, in welchen Bienenstöcke aufgestellt und diese zu lokalen Anlaufpunkten wurden, die regelmäßig aufgesucht wurden. Es dauerte nicht lange und an den Bienengärten entwickelten sich Chutory, d.h. Ansätze von Siedlungen die mehr oder weniger dauerhaft bewohnt, ‐ auf jeden Fall aber regelmäßig aufgesucht wurden.

Hatte sich ein solcher Chutor einmal entwickelt, dauerte es nicht lange, bis sich auch Menschen ansiedelten, die nicht mehr ausschließlich Steppenbeuter waren. Man begann mit Gartenbewirtschaftung, um recht bald zum Ackerbau überzugehen.

Diese Entwicklung hin zur stationären Bewirtschaftung eines Bereichs führte schnell dazu, dass sich die örtlichen Gesellschaften intern strukturierten (es gab plötzlich Familien und ihre Geschichte, Verdiente und "angesehene [znatni]" Personen, Menschen mit mehr und mit weniger Besitz) und ihre Belange zunehmend auch selbst durch Zwang und Verhaltensregeln regulierten. Eine solche Gesellschaft rief natürlich auch die Begehrlichkeiten der Adligen und Herrschaftsschichten im Hinterland nach sich, so dass auch das Hinterland mehr und mehr von den Entwicklungen profitierte und in diese Bereich vordrang. Je mehr Menschen ins Grenzland nachrückten, je mehr treffen wir auf Ackerbau und damit auf herrschaftliche Strukturen, die den Menschen ihre Formen der Herrschaft ‐ bis hin zur Leibeigenschaft ‐ aufzwangen.

Es versteht sich, dass das Vordringen auch der herrschaftlichen Ordnung quasi im Windschatten einer Fluchtbewegung vor Unfreiheit und Unterdrückung, nicht konfliktfrei ablaufen konnte. Was für die Kosakengesellschaften des 17. Jh.s aber unbedingt festzuhalten ist: Es gibt keinen homogenen Raum im Grenzland (gewissermaßen: Freiheit an- und ausgeschaltet), ‐ es ist ein Raum der Übergänge: in einzelnen Gebieten stoßen wir auf eine voll strukturierte Gesellschaft mit Mächtigen und Unterdrückten, in anderen Gebieten stoßen wir auf ackerbauende Siedler (die aber bereits weniger mobil sind, weil sie eine Scholle Acker oder Garten bearbeiten) und ‐ je weiter wir Richtung Steppe kommen, stoßen wir auf die Urzelle kosakischen Lebens, wo Bevormundung nür möglich ist, wenn die meisten oder alle Mitglieder der Gruppe dies so bestimmen. Es ist nicht in erster Linie ein Konflikt der Nationen ‐ der Polen, Ukrainer, Russen, Tataren oder später auch der Juden. Es ist ein Konflikt bzw. eine Gemengelage aller Komponenten, deren Basis und Ursprung aber in der Verdichtung von Siedlung und in deren Kosequenz der Bildung von herrschaftlichen Strukturen darstellt.

Die Wirren in der Kosakengesellschaft der 1660er Jahre sind mit nationalistischen Parametern nur oberflächlich zu erklären: Ja, dieser oder jener Kosakenführer hat sich auf die polnische Seite geschlagen, andere auf die russische. In keiner anderen Phase haben wir in dieser Zeit so viele het'many (hier: Führer mit einem allgemeinherrschaftlichen, politisch-ideologischen Ansatz), die parallel um die Vorherrschaft kämpften. Diese Zahl ist mit der Intervention oder der Identifikation mit ausländischen Mächten nicht erklärbar. Sie ist aber sehr wohl erklärbar, wenn wir die sozialökonomisch stark diversifizierte, lokalisierte Grenzlandgesellschaft mit jeweils sehr individuellen Bestrebungen betrachten.